VERSCHÄMTER ANTISEMITISMUS

Rudolf Steiner

Quelle: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 1901, II. Jahrgang, Nr.46

Reprinted in GA 31, Dornach 1989 (p. 398-414)

I

Der Antisemitismus verfügt nicht gerade über ein großes Besitztum an Gedanken, nicht einmal über ein solches an geistreichen Phrasen und Schlagwörtern. Man muß immer wieder dieselben abgestandenen Plattheiten hören, wenn die Bekenner dieser «Lebensauffassung» den dumpfen Empfindungen ihrer Brust Ausdruck geben. Man erlebt da eigentümliche Erscheinungen. Man mag über Eugen Dühring d,rnken, wie man will; über eines müssen diejenigen, die ihn kennen, sich klar sein: er ist ein in vielen wissenschaftlichen Gebieten gründlich bewanderter, in mathematischen, physikalischen Fragen höchst anregender, in vieler Beziehung origineller Denker. Sobald er auf Dinge zu sprechen kommt, in denen sein Antisemitismus ins Spiel kommt, wird er in dem, was er sagt, platt wie ein kleiner antisemitischer Agitator. Er unterscheidet sich von einem solchen nur noch durch die Art, wie er seine Plattheiten vorbringt, durch das Glänzende seines Stiles.

Solche Paradeschriftsteller zu haben, ist für die Antisemiten von besonderem Wert. Man wird kaum bei irgendeiner Parteitichtung mehr als bei dieser ein fortwährendes Berufen auf Autoritäten finden. Der und jener hat nun auch das oder jenes abfällige Wort über die Juden gesagt; das ist etwas stets Wiederkehrendes in den Veröffentlichungen der Antisemiten.

So kam es denn diesen Leuten besonders gelegen, als sie in dem Buche eines deutschen Universitätslehrers, noch dazu eines solchen, der in den weitesten Kreisen ein gewisses Ansehen genießt, in dem «System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre» des Berliner Professors Friedrich Paulsen, wieder einige der alten Glanzphrasen des Antisemitismus aufspüren konnten.

In der Tat- man begegnet in dem ersten Kapitel des vierten Buches der genannten Ethik Sätzen, welche - vielleicht etwas weniger elegant - ein antisemitischer Agitator unter Bierphilistern eines kleinen Städtchens auch gesagt haben oder der Winkelredakteur eines antisemitischen Blättchens - allerdings auch weniger elegant - geschrieben haben könnte. Und sie sind zu lesen in einer philosophischen Sittenlehre, geschrieben von einem deutschen Professor der Philosophie und Pädagogik, der gut besuchte Vorlesungen hält, der Bücher schreibt, die zumeist Anerkennung finden, ja der sogar vielen als einer der besten Philosophen unserer Zeit gilt. Er schreibt, was man so oft gehört hat:

«Verschieden durch Abstammung, Religion und geschichtliche Vergangenheit, bildeten sie» (die Juden) «Jahrhunderte hindurch eine fremde Schutzbürgerschaft in den europäischen Staaten. Die Aufnahme in das Staatsbürgerrecht erfolgte augenscheinlich auf Grund der Gleichheit nicht nur der Sprache und der Bildung, sondern vor allem ihrer politischen Bestrebungen mit denen der Bevölkerungsgruppe, die seit 1848 entscheidenden Einfluß auf das Staatsleben gewann. Mit der Veränderung der politischen Konstellation seit 1866 ist die Anschauung von der Stellung der Juden zu den Nationalstaaten in weiten Kreisen der Bevölkerung eine andere geworden. Wenn ich mich nicht täusche, hängt die den Juden abgeneigte Stimmung nicht züm wenigsten von der instinktiven Empfindung ab, daß der Jude seine Zukunft, die Zukunft seiner Familie nicht ebenso ausschließlich mit der Zukunft des Staates oder Volkes, unter dem er lebt, verknüpft sieht, als es die anderen Staatsbürger tun: würde Ungarn heute russisch, so würde sich der bisher ungarische Jude bald darin finden, nun ein russischer Jude zu sein, oder er würde die ungarische Erde von den Füßen schütteln und nach Wien oder Berlin oder Paris ziehen, und bis auf weiteres ein österreichischer, deutscher oder französischer Jude sein.»

Wenn ich Paulsens «System der Ethik» zufällig an der Stelle aufschlage, wo diese Ausführungen stehen, ohne den ganzen Zusammenhang zu kennen, in dem sie sich finden, dann würde ich zunächst erstaunt darüber sein, daß ein Philosoph der Gegenwart Dinge dieser Art in einem ernsten Buche zu schreiben wagt. Denn zunächst fällt an diesen Sätzen etwas auf, was auf alles andere eher schließen ließe, als daß sie von einem Philosophen herrühren, dessen erstes und notwendigstes Werkzeug eine widerspruchslose Logik sein soll. Logisch sein heißt aber vor allen Dingen, die Widersprüche in dem wirklichen Leben näher zu untersuchen, sie auf ihre wirklichen Gründe zurückzuführen. Man kann fragen: darf ein Philosoph das tun, was Professor Paulsen macht: den Wandel in zwei aufeinanderfolgenden Zeitstimmungen, die sich gründlich widersprechen, einfach registrieren, ohne die Ursachen dieses Wandels aufzudecken oder wenigstens den Versuch einer solchen Aufdeckung zu machen? Die im Jahre 1848 an die Oberfläche der geschichtlichen Entwicklung tretenden freiheitlichen Anschauungen brachten die Überzeugung, daß eine Gleichheit der Juden «der Sprache und der Bildung», ja auch der «politischen Bestrebungen» mit den abendländischen Völkern vorhanden sei. Eine spätere Zeit erzeugte in vielen Kreisen eine «den Juden abgeneigte Stimmung». Diesen Wandel zu verstehen, macht sich Paulsen leicht. Er führt ihn auf eine «instinktive Empfindung» zurück, die er dann näher beschreibt.

Wir werden in einer Fortsetzung dieses Aufsatzes sehen, was es mit dieser «instinktiven Empfindung» wirklich auf sich hat. Für diesmal sei nur auf das Unstatthafte hingewiesen, in einer philosophischen Darstellung der «Sittenlehre» sich auf «instinktive Empfindungen» zu berufen, deren Grundlage und Berechtigung man nicht untersucht. Es ist doch gerade das Geschäft des Philosophen, das auf klare Vorstellungeq zu bringen, was bei anderen Leuten als unklare Vorstellung sich einnistet. Dazu aber nimmt Paulsen nicht einmal einen Anlauf. Er macht die «instinktiven Empfindungen», die er wahrzunehmen glaubte, einfach zu den seinigen und sagt dann, der vagen, unphilosophischen Vordersätze durchaus würdig: «Erst wenn die Juden völlig seßhaft werden ... wird das Gefühl der Abnormität ihres Staatsbürgertums völlig verschwinden. Ob dies geschehen kann ohne die Aufgebung der altnationalen Religionsübung, ist allerdings wohl fraglich». Mir ist, nachdem ich diesen Satz gelesen habe, nur eines fraglich: ob es nicht unerhört ist, an solcher Stelle, in einem Buche, das auf so viele in einer wichtigen Sache berechnet ist, so Gegenstandsloses zu sagen? Denn man frage sich, was denn Professor Paulsen eigentlich behauptet hat. Er hat nichts gesagt, als daß er glaube, «instinktive Empfindungen» wahrzunehmen, und daß er über das, was werden soll, sich keine Meinung bilden könne. Wer das für philosophisch halten will, der mag es tun. Ich halte es für philosophischer, über Dinge zu schweigen, in denen ich so offen bekennen muß, daß ich keine Meinung habe.

Das, wie gesagt, müßte zunächst derjenige sagen, der in Paulsens Buch nur die eine Stelle läse. Und der hätte zunächst auch recht. Wir wollen in einem zweiten Teil dieses Artikels zeigen, wie sich die Paulsensche Ausführung un Lichte seines übrigen Denkens, und dann, wie. sie sich im Lichte des deutschen Geisteslebens der letzten Jahrzehnte ausnimmt. Ich hoffe, daß man in einer solchen Betrachtung ein nicht uninteressantes Kapitel zur «Psychologie des Antisemitismus» finden werde.

 

II

Diejenigen dumpfen Empfindungen, aus denen neben allerlei anderem auch der Antisemitismus entspringt, haben das Eigentümliche, daß sie alle Geradheit und Einfachheit des Urteils untergraben. An keiner sozialen Erscheinung hat man das in neuerer Zeit vielleicht besser beobachten können als am Antisemitismus selbst. Ich war dazu in meinen Wiener Studienjahren vor etwa zwanzig Jahren in der Lage. Es war die Zeit, in welcher der bis dahin in der Hauptsache radikaldemokratische niederösterreichische Gutsbesitzer Georg von Schönerer zum «nationalen» Antisemiten wurde. Bei Schönerer selbst diesen Umschwung zu erklären, wird nicht so ganz leicht sein. Wer diesen Mann in seinem öffentlichen Wirken zu beobachten Gelegenheit hatte, weiß, daß er eine ganz unberechenbare Natur ist, bei der die persönliche Laune mehr als der politische Gedanke bedeutet, die ganz von einer ins Unbegrenzte gehenden Eitelkeit beherrscht wird. Nicht die eigenen Wandlungen dieses Mannes, sondern vielmehr die Wandlungen derer, die seine Anhänger wurden, sind in der Entwicklungsgeschichte des neuen Antisemitismus eine bedeutungsvolle Tatsache. Vor Schönerers Auftreten war es in Wien leicht, sich mit den jungen Leuten, die unter dem Einflusse der liberalen Gesinnungen herangewachsen waren, zu unterhalten. Es lebte in diesem Teile der Jugend echter, von der Vernunft getragener Freiheitssinn. Antisemitische Instinkte gab es auch damals. Auch im vornehmeren Teil des deutschen Bürgertums fehlten diese Instinkte nicht. Aber man war überall auf dem Wege, solche Instinkte als unberechtigt anzusehen und zu überwinden. Man war sich klar darüber, daß solche Dinge Überbleibsel aus einer weniger vor geschrittenen Zeit seien, denen man nicht nachgeben dürfe. Jedenfalls war man sich klar darüber, daß alles, was man mit dem Anspruch auf öffentliche Geltung sagte, nicht auf solchem Gesinnungsboden erwachsen sein dürfe wie der Antisemitismus, dessen sich damals ein wahrhaft auf Bildung Anspruchmachender wirklich geschämt hätte.

Auf die studentische Jugend und im übrigen zunächst auf geistig nicht sehr hochstehende Bevölkerungsklassen wirkte Schönerer. Die Leute, die von freieren Lebensauffassungen zu seiner unklaren Weise übergingen, fingen plötzlich an, in einer ganz anderen Tonart zu reden. Leute, die man vorher von «wahrer Menschenwürde», «Humanität» und den «freiheitlichen Errungenschaften des Zeitalters» hatte deklamieren hören, fingen nun an, rückhaltlos von Empfindungen, von Antipathien zu reden, die zu ihren früheren DekIamationen sich wie Schwarz zu Weiß verhielten und zu denen sie sich kurz vorher, ohne von Schamröte überströmt zu werden, nicht bekannt haben würden. Es war der Punkt im Geistesleben solcher Menschen erreicht, den ich am liebsten damit charakterisieren möchte, daß ich sage: die strenge Logik ist aus der Reihe der Mächte gestrichen, die den Menschen im Irinern beherrschen. Man kann sich davon jeden Augenblick überzeugen. Keiner der eben ins antisemitische Lager übergegangenen wagte es, gegen seine ehemaligen liberalen Grundsätze im Ernste etwas vorzubringen. jeder behauptete vielmehr: im Wesen bekenne er sich nachher wie vorher zu diesen Grundsätzen, was aber die Anwendung dieser Grundsätze auf die Juden betreffe, ja ... Und nun folgte eben irgendeine Phrase, die jedem gesunden Denken ins Gesicht schlug. Durch den Antisemitismus ist die Logik entthront worden.

Für jemand, der, wie ich, immer sehr empfindlich gegen Sünden wider die Logik war, wurde jetzt der Verkehr mit solchen Leuten besonders peinlich. Damit nicht der eine oder der andere glaubt, über diesen Satz schlechte Witze machen zu können, bemerke ich, daß ich meine Nervosität gegenüber der Unlogik ohne alle Unbescheidenheit gestehen darf. Denn «logisches Denken» halte ich für allgemeine Menschenpflicht und die besondere Nervosität in solchen Dingen für eine Anlage, für die man so wenig kann wie für seine Muskelkraft. Ich selbst aber war durch diese meine Nervosität geeignet, den Entwicklungsgang des Antisemitismus an einem besonderen Beispiele - ich möchte sagen - intim zu studieren. Ich sah jeden Tag unzählige Beispiele von Korrumpierung des logischen Denkens durch dumpfe Gefühle.

Ich weiß, daß ich hier nur von einem Beispiele rede. Die Dinge haben sich vielfach anderswo anders vollzogen. Aber ich glaube, daß man eine Sache doch wahrhaft nur verstehen kann, wenn man sie irgendwo intim kennengelernt hat. Und für die Beurteilung des «Falles Paulsen» bin ich vielleicht gerade durch diese meine «Studien» ganz besonders vorbereitet. Allen schuldigen Respekt vor dem Herrn Professor. Aber ein bedenklicher logischer Konflikt liegt bei ihm vor. Nicht so kraß wie bei meinen vom Liberalismus zum Schönererianismus sich bekehrenden Altersgenossen. Das ist wohl selbstverständlich. Aber ich denke: der gelindere Fall Paulsen wird durch den krasseren Fall eben in die rechte Perspektive gerückt.

Im zweiten Buch seines «Systems der Ethik», in dem Aufsatz über die Begriffe von «Gut und Böse», schreibt Paulsen: «Das Verhalten eines Menschen ist moralisch gut, sofern es objektiv im Sinne der Förderung der Gesamtwohlfahrt zu wirken tendiert, subjektiv, sofern es mit dem Bewußtsein der Pflichtmäßigkeit oder der sittlichen Notwendigkeit begleitet ist.» Kurz vorher schreibt Paulsen über den Satz «Der Zweck heiligt die Mittel»: «Versteht man den Satz so: nicht ein beliebiger erlaubter Zweck, sondern der Zweck heiligt die Mittel; es gibt aber nur einen Zweck, von dem alle Wertbestimmung ausgeht, nämlich das höchste Gut, die Wohlfahrt oder die vollkommenste Lebensgestaltung der Menschheit».

Kann es von diesen beiden Sätzen aus eine Brücke geben zu den Anschauungen, welche die Abneigung gegen die Juden zeitigt? Müßte man nicht im wahrhaft logischen Fortschritt des Denkens die Läuterung einer solchen Abneigung durch die Vernunft energisch fordern? Was tut statt dessen Paulsen? Er sagt: «Mit der Veränderung der politischen Konstellation seit 1866 ist die Anschauung von der Stellung der Juden zu den Nationalstaaten in weiteren Kreisen der Bevölkerung eine andere geworden.» Mußte er nun diese Wandlung nicht als einen Abfall von seinem moralischen Ideal, von der Flingabe an den einen Zweck halten, der wirklich die Mittel heiligt? Der Liberalismus hat mit dem Glauben an die «vollkommenste Lebensgestaltung der Memchheit» als sittliches Ideal Ernst gemacht. Dieser Ernst läßt aber eine Veränderung, wie die seit 1866 eingetretene, nicht zu. Er macht es unmöglich, die Menschheit in einer Weise willkürlich zu begrenzen.

Hier liegt es, wo Paulsen, um nicht bitter gegen den Antisemitismus werden zu müssen, lau gegen die Logik wird.

Ein weiteres Eingehen auf diesen logischen Riß verspare ich dem Schluß dieses Artikels.

 

III

Daß ein Urteil wie das des Professors Paulsen über die Juden innerhalb eines Werkes möglich ist, das den Anspruch macht, auf der Höhe der philosophischen Zeitbildung zu stehen, dafür muß es tiefere Gründe in der geistigen Kultur der Gegenwart geben. Wer den Gang der geistigen Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert verfolgt, wird auch, bei einiger Unbefangenheit, leicht zu diesen Gründen geführt werden. Es gab in dieser Entwicklung immer zwei Strömungen. Die eine war in gerader Linie die Nachfolge der «Aufklärung» des achtzehnten Jahrhunderts; die andere war eine Art Gegenströmung gegen die Ergebnisse der Aufklärung. Das ewige Verdienst der letzteren wird es sein, dem Menschen als höchstes Ideal das «reine, harmonische Menschentum» selbst vorgehalten zu haben. Eine sittliche Forderung von unver. gleichlicher Höhe liegt darin, zu sagen: man sehe ab von allen zufälligen Zusammenhängen, in die der Mensch gestellt ist, und suche in allem, in Familie, Gesellschaft, Volk usw., den «reinen Menschen» zur Geltung zu bringen. Wer solches ausspricht, weiß natürlich ebensogut wie die weisen- Philister, daß Ideale im unmittelbaren Leben nicht ausgeführt werden können. Ist es denn aber unsinnig, in der Geometrie vom Kreis zu sprechen, weil man ja doch mit dem Bleistift nur einen ganz unvollkommenen Kreis aufs Papier bringen kann? Nein, es ist gar nicht unsinnig. Es ist vielmehr höchst töricht, solch Selbstverständliches zu betonen. Ebenso töricht ist es, in der Ethik davon zu sprechen, was wegen der Unvollkommenheit alles Wirklichen nicht sein kann. Das wahrhaft Wertvolle ist hier doch nur, die Ziele anzugeben, denen man sich nähern will. Das hat die Aufklärung getan.

Dieser Anschauung trat die andere gegenüber, die ihre Wurzeln in der Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung suchte. Man berührt, wenn man davon spricht, große Fehler in der Bildung des neunzehnten Jahrhunderts, die mit großen Tugenden zusammenhängen. Man braucht nur die Namen Jacob und Wilhelm Grimm zu nennen, um an die ganze Bedeutung des Satzes zu erinnern- der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts lernte seine eigene Vergangenheit begreifen, er lernte verstehen, was er jetzt ist durch das, was er einst war. In unsere sprachliche, in unsere mythische Vergangenheit haben uns die Brüder Grimm eingeführt. Ihre Überzeugung ist in den schönen Worten enthalten: «Es wird dem Menschen von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlandes überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte.» Man weiß, daß im neunzehnten Jahrhundert auf der Bahn solcher Anschauungen rüstig vorwärtsgegangen wurde. Die willkürlichen Vorstellungen, die sich die Zeitgenossen Rousseaus über die Urzustände der Menschheit gemacht hatten, wurden durch die Betrachtungen der wirklichen Verhältnisse ersetzt. Sprachwissenschaft, Refigionswissenschaft, allgemeine Kultur- und Völkergeschichte machten die größten Fortschritte. Man suchte nach allen Richtungen zu erforschen, wie der Mensch geworden ist.

Das alles zu unterschätzen, könnte nur einem Toren beifallen. Es zeitigte aber auch einen Mangel unserer Lebensanschauungen, der nicht übersehen werden darf. Die Kenntnis der Vergangenheit hätte bloß unser Wissen bereichern sollen; statt dessen beeinflußte sie die Motive unseres Handelns. Das Nachdenken über das, was gestern mit mir vorgegangen ist, wird mir zum Hemmschuh, wenn es mir heute die Unbefangenheit der Entschlüsse raubt. Wenn ich mich heute nicht nach den Verhältnissen richte, die mir entgegentreten, sondern damach, was ich gestern getan habe, so bin ich auf dem Holzwege. Wenn ich handeln will, soll ich nicht in mein Tagebuch, sondern in die Wirklichkeit schauen. Die Gegenwart läßt sich aus dem Gesichtspunkt der Vergangenheit wohl ersehen, sie läßt sich aber daraus nicht beherrschen. Friedrich Nietzsche hat in einer seiner interessanten Schriften, in seiner «Unzeitgemäßen Betrachtung» über «Nutzen und Schaden der Historie für das Leben», beleuchtet, was für Schäden eintreten, wenn die Gegenwart durch die Vergangenheit gemeistert werden soll.

Wer offene Augen für die Gegenwart hat, der weiß, daß es unrichtig ist, wenn man meint, es sei die Zusammengehörigkeit der Juden untereinander größer als ihre Zusammengehörigkeit mit den modernen Kulturbestrebungen. Wenn es in den letzten Jahren auch so ausgesehen hat, so hat dazu der Antisemitismus ein Wesentliches beigetragen. Wer, wie ich, mit Schaudern gesehen hat, was der Antisemitismus in den Gemütern edler Juden angerichtet hat, der mußte zu dieser Überzeugung kommen. Wenn Paulsen eine Ansicht ausspricht wie die von den Sonderinteressen der Juden, so zeigt er nur, daß er nicht unbefangen zu beobachten versteht. Lassen wir uns doch unser Urteil, wie wir in der Gegenwart zusammenleben sollen, nicht trüben durch unsere Vorstellungen darüber, daß wir in der Vergangenheit gesonderte Entwicklungen durchgemacht haben. Warum tritt uns denn gerade ein gewisser verschämter Antisemitismus innerhalb der gebildeten Welt dort entgegen, wo das Studium der Geschichte zum Ausgangspunkt genommen wird? Die Zukunft wird ja gewiß nichts anderes bringen als die Wirkungen der Vergangenheit; aber wo herrscht denn in der Natur die Regel, daß die Wirkungen gleich seien ihren Ursachen?

Wer Paulsens ganze Denkweise in Betracht zieht, wird zugestehen müssen, daß er eine Einzelerscheinung innerhalb der Kreise der sogenannten historischen Bildung ist. Ich werde noch in einer Schlußausführung dies im besonderen erhärten.

 

IV

Friedrich Paulsen hat einmal in trefflichen Worten die Schattenseiten unserer Gegenwart charakterisiert. In seinem Aufsatz. «Kant, der Philosoph des Protestantismus» sagt er: «Die Signatur unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts ist: Glaube an die Macht, Unglaube an die Ideen. Am Ende des vorigen Jahrhunderts stand der Zeiger der Zeit umgekehrt: der Glaube an Ideen war allherrschend, Rousseau, Kant, Goethe, Schiller die Großmächte der Zeit. Heute, nach dem Scheitern der ideologischen Revolutionen von 1789 und 1848, nach den Erfolgen der Machtpolitik gilt das Stichwort vom Willen zur Macht.» Zweifellos ist, daß unsere Zeit das Verständnis für die Mission eines wahren Idealismus nicht hat. Goethe hat einmal geäußert: wer die Bedeutung einer Idee wirklich durchschaut hat, der lasse sich den Glauben an sie durch keinen scheinbaren Widerspruch mit der Erfahrung rauben. Die Erfahrung müsse sich der einmal als richtig erkannten Idee fügen. Gegenwärtig findet ein solcher Gedanke wenig Anklang. Die Ideen hab~n die Schlagkraft in unserem Vorstellungsleben verloren. Man weist auf die «praktischen Interessen», auf das hin, was «sich durchsetzen kann». Man sollte doch einmal bedenken, daß die Geschichte des Geistesfortschrittes selbst, wenn sie vom richtigen Gesichtspunkte aus gesehen wird, die Schlagkraft der Ideen beweist. Ich will auf ein lautsprechendes Beispiel deuten. Als Kopernikus die große Idee von den Bahnen der Planeten um die Sonne aufstellte, da konnte man, vom Standpunkte der astronomischen Praxis, alles mögliche dagegen einwenden. Die Tatsachen, über die man eine Erfahrung hatte, widersprachen zum Teile durchaus der Lehre, die Kopernikus aufstellte. Vom Standpunkte des praktischen Astronomen hatte damals nicht Kopernikus recht, sondern Tycho, Brahe, der ihm entgegnete: «Die Erde ist eine grobe, schwere und zur Bewegung ungeschickte Masse, wie kann nun Kopernikus einen Stern daraus machen und ihn in den Lüften herumführen? » Die geschichtliche Entwicklung hat Kopernikus recht gegeben, weil er, die Richtigkeit der einmal gefaßten Idee durchschauend, sich zu dem Glauben erhob, daß spätere Tatsachen den scheinbaren Widerspruch aus der Welt schaffen werden.

Wie es mit den Ideen im wissenschaftlichen Fortschritte steht, so muß es sich mit ihnen auch im sittlichen Leben verhalten. Paulsen gibt das theoretisch auch zu, indem er den obenangeführten Satz vertritt. Er weicht in der Praxis davon ab, wenn er den Antisemitismus als eine teilweise berechtigte Erscheinung hinstellt. Wer an die Ideen glaubt, der kann sich durch die geschichtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte in der unbedingten Gültigkeit dieser Ideen nicht beirren lassen. Er müßte sich sagen: mögen die Dinge einstweilen so liegen, daß die Wirklichkeit den absolut liberalen Ideen scheinbar widerspricht; diese Ideen sind von solchem Widerspruch unabhängig. Der Antisemitismus ist ein Hohn auf allen Glauben an die Ideen. Er spricht vor allem der Idee Hohn, daß die Menschheit höher steht als jede einzelne Form (Stamm, Rasse, Volk), in der sich die Menschheit auslebt.

Aber wohin steuern wir, wenn die Philosophen, diese Triger der Ideenwelt, diese berufenen Anwälte des Idealismus, selbst nicht mehr das gehörige Vertrauen in die Ideen haben? Was soll werden, wenn sie sich dieses Vertrauen dadurch rauben lassen, daß ein paar Jahrzehnte hindurch die Instinkte einer gewissen Volksmenge andere Wege einschlagen, als diese Ideen vorzeichnen? Ein Mann wie Paulsen kann nur durch eine übermäßige Achtung vor der geschichtlichen Wirlichkeit zu Behauptungen geführt werden, wie die sind, wegen deren ich diese Ausführungen geschrieben habe. In dem Widerspruche, in dem er sich zu seinen eigenen Behauptungen setzt, zeigt sich bei Paulsen so recht, daß er in dem Banne der von mir gekennzeichneten falschen historischen Bildung steht. Er schwingt sich nicht dazu auf, an der geschichtlichen Entwicklung der Volksinstinkte Kritik zu üben; er läßt vielmehr diese Volksinstinkte ein gewichtiges Wort mitreden. Daß das so ist, drückt sich auch zur Genüge in der unbestimmten Art aus, wie Paulsen über die Antipathien gegenüber den Juden spricht. Diese Art gibt sich eben durchaus als «verschämter Antisemitismus» zu erkennen. Nirgends ist es mehr nötig als auf diesem Gebiete, daß man seinen Glauben an die Ideen durch eine entschiedene, unzweideutige Stellungnahme dokumentiere.

Man klagt mit Recht darüber, daß die Philosophie in der Gegenwart ein geringes Ansehen genießt. Sie würde dieses geringe Ansehen verdienen, wenn sie den Glauben an das verlöre, was sie vor allem zu hüten hat, an die Ideen. Der Philosoph muß seine Zeit begreifen. Er begreift sie nicht dadurch, daß er an ihre Verkehrtheiten Konzessionen macht, sondern lediglich dadurch, daß er diesen Verkehrtheiten die ihm aus seiner Ideenwelt stammende Kritik entgegensetzt. Der philosophische Sittenlehrer sollte es mit allem, was die Antisemiten von den Juden behaupten, so halten wie der Mineraloge, der auch dann behaupten wird, Salz bildet würfelförtnige Kristalle, wenn ihm einer einen Salzkristall zeigt, dem durch irgendwelche Umstände die Ecken abgeschlagen sind.

Der Antisemitismus ist nicht allein für die Juden eine Gefahr, er ist es auch für die Nichtjuden. Er geht aus einer Gesinnung hervor, der es mit dem gesunden, geraden Urteil nicht Ernst ist. Er befördert eine solche Gesinnung. Und wer philosophisch denkt, sollte dem nicht ruhig zusehen. Der Glaube an die Ideen wird erst dann wieder zu seiner Geltung kommen, wenn wir den ihm entgegengesetzten Unglauben auf allen Gebieten so energisch als möglich bekämpfen.

Es ist schmerzlich, sehen zu müssen, daß sich gerade ein Philosoph zu Grundsätzen in Widerspruch setzt, die er selbst klar und trefflich gekennzeichnet hat. Ich glaube nicht, daß sich leicht ein Mann wie Paulsen intensiv für den Antisemitismus einsetzen kann. Davor bewahrt ihn, wie so viele andere, der philosophische Geist. Aber gegenwärtig ist in dieser Angelegenheit mehr erforderlich. Jede unbestimmte Haltung ist vom Übel. Die Antisemiten werden die Aussprüche einer jeden Persönlichkeit als Wasser auf ihre Mühle benutzen, wenn diese Persönlichkeit auch nur durch eine unbestimmte Äußerung dazu Veranlassung gibt. Nun kann der Philosoph ja immer sagen, er sei nicht verantwortlich für das, was die andem aus seinen Lehren machen. Das ist zweifellos zuzugeben. Wenn aber ein philosophischer Sittenlehrer in die aktuellen Tagesfragen eingreift, dann muß in gewissen Dingen seine Stellung klar und unzweideutig sein. Und mit dem Antisemitismus als Kulturkrankheit liegt heute die Sache so, daß man bei niemandem, der in öffentlichen Dingen mitredet, in Zweifel sein sollte, wie man seine Aussprüche über denselben auslegen kann.

Rudolf Steiner

 

info3

Anthroposophy, Critics, and Controversy

defending

rsweb

uncletaz